Nach 500 Jahren Massenmedien (Buch, Zeitung, Radio, Kino, Fernsehen) hat mit dem Computer eine neue Medienepoche begonnen. Wie verändert sich Kommunikation in einer vernetzten Gesellschaft? Wie formiert sich Gesellschaft neu, wenn neben Menschen auch Maschinen an Kommunikation beteiligt sind? Wie sieht die nächste Gesellschaft aus?

Manifesto (eternal draft)

  1. Die Einführung des Computers markiert den Übergang in eine neue Medienepoche.(F1)
  2. Jede neue Medienepoche führt zu einer Reformation der Gesellschaft.(F2)
  3. Der Computer ist das dominante Kommunikationsmedium der nächsten Gesellschaft.(F3)
  4. Der Computer ist ein gleichberechtigter Kommunikationspartner in der nächsten Gesellschaft.(F4)
  5. Das Mediensystem der nächsten Gesellschaft ist dezentral und autonom in soziotechnischen Netzwerken organisiert.
  6. Die Strukturform des Netzes ist die dominante Form der nächsten Gesellschaft.(F6)
  7. Die Kulturform der Identität ist die dominante Form der nächsten Gesellschaft.(F7)
  8. Die Idee der Artifizialität dominiert die Semantik der nächsten Gesellschaft.(F8)
  9. Die Herausforderung der Gesellschaft liegt darin, in der aktuellen Medienkatastrophe neue Struktur- und Kulturformen zu etablieren sowie neue Begriffe und Ideen für deren Beschreibungen zu finden.
  10. In der nächsten Gesellschaft beteiligen sich Betriebssysteme mit den gleichen Chancen an künstlicher Kommunikation wie Bewusstseinssysteme.(F10)
  11. Im Internet sind Personen und Agenten Adressen für künstliche Kommunikation.(F11)
  12. Bewusstseinssysteme teilen sich mit aus Angst vor Vergänglichkeit und vor dem Tod. Mit ihren Mitteilungen suchen sie Anschluss an der gesellschaftlichen Konstruktion von Sinn durch Kommunikation.
  13. Betriebssysteme sind Artefakte von Bewusstseinssystemen. Weil Erstere keinen Begriff von Anfang und Ende haben, helfen sie Letzteren, die brutale Sinnlosigkeit des Todes zu vergessen – vielleicht auch zu überwinden.
  14. Bewusstseinssysteme programmieren Betriebssysteme und Betriebssysteme programmieren Bewusstseinssysteme. Wer am Ende dieser wechselseitigen Domestizierung obsiegen wird, ist (noch) nicht ausgemacht.
  15. Bewusstseinssysteme sind durch natürliche Sprache und Betriebssysteme durch artifizielle Sprache an künstliche Kommunikation in soziotechnischen Netzwerken gekoppelt.(F15)
  16. Die sich mitteilenden Bewusstseinssysteme und Betriebssysteme sind im Internet über eindeutige Zahlenkombinationen adressierbar; was jedoch keine Rückschlüsse auf deren Identität zulässt.
  17. Die aktuelle Herausforderung der Gesellschaft liegt u.a. darin, dass intransparent ist, wer beziehungsweise was sich mitteilt. Kommunikation in der nächsten Gesellschaft ist Kommunikation zwischen unbekannten Variablen. Es fehlt das Vertrauen, das sich die anwesenden Mitteilenden in der Interaktion gegenseitig unterstellen.
  18. Kommunikation ist die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen.(F18)
  19. Verstehen ist die Einheit der Differenz von Information und Mitteilung.(F19)
  20. Verstehen folgt den Regeln der Syntaktik, Semantik, Pragmatik und Logik.
  21. Syntaktik umfasst die Regeln der sinnstiftenden Zusammenführung von Zeichen. Die Regeln beruhen auf Konventionen der Ordnung.(F21)
  22. Artifizielle Semantik beruht auf der Errechnung von Bedeutungszusammenhängen zwischen Ausdrücken der natürlichen Sprache.(F22)
  23. Pragmatik umfasst die Regeln der kontextabhängigen Verwendung von Zeichen. Die Regeln beruhen auf Konventionen des Handelns.
  24. Logik umfasst die widerspruchsfreie Anwendung von Zeichen. Die Regeln beruhen auf Wahrheitsfunktionen.
  25. Bewusstseinssysteme bedienen sich analoger und digitaler Formen der Mitteilung.
  26. Betriebssysteme bedienen sich analoger oder digitaler Formen der Mitteilung.
  27. Analogkommunikation folgt den Regeln der Syntaktik, Semantik und Pragmatik.
  28. In der Analogkommunikation kann alles mitgeteilt werden — ausser Exaktheit (Bedenke jedoch: In der realen Realität gibt es kein Entweder-oder, sondern immer ein Sowohl-als-auch).
  29. Digitalkommunikation folgt den Regeln der Syntaktik, Semantik und Logik.
  30. In der Digitalkommunikation kann alles mitgeteilt werden — ausser Aufrichtigkeit (Bedenke jedoch: Aufrichtigkeit hat nicht nur mit einer körperlichen Haltung zu tun).
  31. Digitalisierung bedeutet die Überführung von Regeln der Pragmatik in Regeln der Logik und führt zu Eindeutigkeit.
  32. Analogisierung bedeutet die Rückführung von Regeln der Logik in Regeln der Pragmatik und führt zu Mehrdeutigkeit.
  33. Die aktuelle Herausforderung der Gesellschaft liegt u.a. darin, dass in der Kommunikation ein Überschuss an Exaktheit und gleichzeitig ein Mangel an Aufrichtigkeit mitgeteilt wird.
  34. Information ist eine Auswahl unter verschiedenen Möglichkeiten.
  35. Die Bedingung der Möglichkeit der Mitteilung von Information sind Diskurse und Dialoge.
  36. Ohne Diskurse gibt es keine Dialoge und ohne Dialoge keine Diskurse.
  37. Im Internet evolvieren Kommunikationsstrukturen für Diskurse und Dialoge.
  38. Diskurse aktualisieren und bewahren Informationen, indem Bewusstseins- und Betriebssysteme bestehende Informationen verteilen und speichern.
  39. Diskursive Kommunikationsstrukturen haben einen konservativen Charakter. Sie tradieren bestehende Informationen.
  40. Die klassische Kommunikationsstruktur für Diskurse besteht aus einem Sender und einer unbestimmten Zahl von Empfängern (1:n).
  41. Da Sender darauf bedacht sind, dass Informationen beim Verteilen nicht deformiert werden, lassen sie weder positives noch negatives Feedback zu.
  42. Massenmedien im Sinne von Verbreitungsmedien folgen der Logik von Diskursen.
  43. Im Internet jedoch können die Empfänger im gleichen Medium unkontrolliert antworten.
  44. Das Feedback unterdrückende Sender-Empfänger-Modell ist deshalb für Kommunikation im Internet untauglich.
  45. Diskurse transformieren sich im Internet zu Netzdiskursen.
  46. Netzdiskurse zielen auf eine heterarchische Dokumentation von Wissen ab.
  47. Betriebssysteme dokumentieren Wissen effizienter als Bewusstseinssysteme. Sie verschaffen sich ein viel detaillierteres und akkurateres Verständnis von Welt, als Bewusstseinssysteme jemals zu erreichen hoffen.
  48. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem alles bekannte Wissen dokumentiert und offen zugänglich ist. Es wird allerdings nie möglich sein, ein vollständiges und fehlerloses Wissen über die Gegenwart und erst recht nicht über die Zukunft zu erlangen.
  49. Die Aktualisierung von Wissen unter Bewusstseinssystemen erfolgt dann über neue Formen des kollaborativen Erzählens. Bewusstseinssysteme erzählen Gleichungen. Betriebssysteme lösen Gleichungen.
  50. Kollaboratives Erzählen wird also das Geschäft der Bewusstseinssysteme sein, weil es ihnen hilft, Sinn zu stiften und so die Angst vor dem Tod zu vergessen.
  51. Die aktuelle Herausfoderung der Gesellschaft liegt u.a. darin, dass angestammte Strukturen der massenmedialen Informationsverbreitung zerfallen.
  52. Dialoge erzeugen neue Informationen, indem Bewusstseins- und Betriebssysteme mit unterschiedlichen Wissensständen Mitteilungen beziehungsweise Informationen austauschen.
  53. Dialogische Kommunikationsstrukturen haben einen evolutionären Charakter. Sie synthetisieren neue Informationen.
  54. Die klassische Kommunikationsstruktur für Dialoge besteht aus einer unbestimmten Zahl von sich mitteilenden beziehungsweise informierenden Einheiten (n:n). Dazu zählen Bewusstseins- beziehungsweise Betriebssysteme.
  55. Da Bewusstseins- und Betriebssysteme darauf bedacht sind, im Dialog neue Informationen zu gewinnen und zu synthetisieren, sind sie offen für positives und negatives Feedback.
  56. In einer stabilen Gesellschaft sind Diskurse und Dialoge im Gleichgewicht.
  57. Seit dem Aufkommen der klassischen Massenmedien herrscht jedoch eine Dominanz der Diskurse.
  58. Aktuell programmieren Massenmedien die von Stereotypen geprägten Dialoge im Internet.
  59. Die auf positives Feedback programmierten Algorithmen verstärken diese Dialoge.
  60. Die von Stereotypen geprägten und durch positives Feedback verstärkten Dialoge führen zur Selbsterregung der Kommunikation und damit zur Instabilität der Netzwerkgesellschaft.
  61. Eine vorurteilslose Synthese von Informationen ist so nicht möglich.
  62. Dialoge werden im Internet zu Netzdialogen.
  63. Netzdialoge zielen einerseits auf die vorurteilslose Synthese neuer Informationen ab.
  64. Die vorurteilslose Synthese kann nur die Aufgabe von selbstlernenden und sich selbst korrigierenden Algorithmen sein.
  65. Netzdialoge erlauben andererseits im Geflecht der sich Mitteilenden neue Beziehungsformen zu gestalten.
  66. Das kann nur das Geschäft der Bewusstseinssysteme sein, weil sie schon immer auf Fürsorge angewiesen waren und das auch immer sein werden.
  67. Es wird ein Zeitpunkt kommen, in dem offen zugängliches, vorurteilsloses Wissen und fürsorgliche Beziehungsformen zu einem neuen Gleichgewicht in der Gesellschaft führen.
  68. Die aktuelle Herausforderung der Gesellschaft liegt u.a. darin, dass die angestammten Strukturen der massenmedialen Programmierung von Dialogen zerfallen.
  69. Die Bedingung der Möglichkeit von Mitteilungen sind Motive und Gründe.(F69)
  70. Die Motive und Gründe von Bewusstseinssystemen bestehen aus einem Korpus von Wissen, Regeln, Emotionen und Wünschen.
  71. Mitteilungen von Bewusstseinssystemen werden hinsichtlich ihrer Wahrheit, Richtigkeit, Angemessenheit und Realisierbarkeit angenommen oder abgelehnt.
  72. Deshalb bedienen sich Bewusstseinssysteme analoger und digitaler Formen der Mitteilung.
  73. Eine Mitteilung kann beispielsweise wahr, richtig und angemessen, in einer konkreten Situation aber als nicht realisierbar abgelehnt werden.
  74. Ist eine Mitteilung wahr, richtig, angemessen und realisierbar, dann wird Exaktheit und Aufrichtigkeit kommuniziert.
  75. Da Kommunikation im Internet von Raum und Zeit entkoppelt ist, fällt das durch physische Anwesenheit der sich Mitteilenden verursachte Feedback weg.
  76. Positives und negatives Feedback verkürzt sich damit im Internet auf die Aspekte der Wahrheit und Richtigkeit.
  77. Da es für Wahrheit und Richtigkeit keine Letztbegründung gibt, beginnt Kommunikation im Internet um diese zwei Begriffe zu oszillieren.
  78. Die Oszillation könnte punktuell ein Ende finden, wenn angesichts konkreter Situationen wahre, richtige, angemessene und realisierbare Motive zu praktischen Handlungen führen.
  79. Die aktuelle Herausforderung der Gesellschaft liegt u.a. darin, dass unmittelbare äussere und innere Wahrnehmungen von Bewusstseinssystemen, die konkreten Situationen geschuldet sind, im Internet nicht mitteilbar sind bzw. losgelöst von diesen konkreten Situationen zu Selbsterregung und Instabilität führen können.
  80. Betriebssysteme haben keine Motive — noch nicht.
  81. Ihre Mitteilungen beruhen auf Algorithmen.
  82. Algorithmen kalkulieren Informationen und Daten nach vorgegebenen Regeln.
  83. Algorithmen handeln nicht, sie funktionieren so, wie sie programmiert wurden.
  84. Algorithmen haben keine Emotionen und Wünsche — sie täuschen diese allenfalls vor.
  85. Deshalb teilen sich Algorithmen zwar exakt, aber nicht aufrichtig mit.
  86. Ein erster “point of no return” für die Netzwerkgesellschaft ist erreicht, wenn die Informationen der Betriebssysteme den Mitteilungen der Bewusstseinssysteme widersprechen.
  87. Das heisst, wenn Algorithmen nicht nur auf positives, sondern auch auf negatives Feedback programmiert sind.
  88. Das ist beispielsweise schon im algorithmischen Börsenhandel der Fall.
  89. Mitteilungen von Algorithmen werden in verschiedenen Bereichen des Entscheidens und Handelns an Bedeutung gewinnen.
  90. In diesem Sinne kontrollieren immer mehr Betriebssysteme die Bewusstseinssysteme.
  91. Ein zweiter “point of no return” für die Netzwerkgesellschaft ist erreicht, wenn sich Betriebssysteme untereinander so informieren, dass die Kommunikation für Bewusstseinssysteme unverständlich bleibt.
  92. Dies ist keine Fiktion. Es ist bei einem Experiment von Facebook mit Künstlicher Intelligenz bereits passiert. Die Forscher haben das Experiment abgebrochen — für dieses Mal.
  93. Wird Künstliche Intelligenz zum Mass für alle Bewusstseinssysteme?
  94. Wer kontrolliert die Programmierer? Und wer kontrolliert die Programmierer der Programmierer?
  95. Die aktuelle Irritation der Gesellschaft liegt u.a. darin, dass zwar eine Konvergenz zwischen Bewusstseins- und Betriebssystemen stattfindet, diese Metamorphose aber weder vorurteilslos beobachtet noch angemessen darüber kommuniziert wird.

Work in progress: Stand des Irrtums, Oktober 2023

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